Nina | 30.12.2008 10:56 Uhr |
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Nur wer in privater Geborgenheit aufwächst, schrieb Hannah Arendt, strebt in öffentliche Ämter. Nach dieser Theorie hätte Abraham Lincoln nie Präsident werden dürfen. Lincoln ist in Kentucky geboren und an der Frontier von Indiana und Illinois aufgewachsen. Sein Vater, ein gewalttätiger und trinkfreudiger Mann, behandelte ihn wie einen unerwünschten Stiefsohn, vielleicht weil er das Gerücht glaubte, Abraham sei nicht sein leibliches Kind. Der junge Lincoln verabscheute die Jagdleidenschaft seines Vaters und dessen rauhbeinige und oberflächliche Männlichkeit. Umgekehrt verachtete der analphabetische Vater den Bildungshunger seines Sohnes, »fooling himself with eddication«, wie er das nannte. Der Konflikt war von Dauer. Lincoln erschien weder am Sterbebett noch zum Begräbnis seines Vaters. Die Mutter, unehelich geboren, konnte ebensowenig lesen und schreiben wie ihr Mann. Sie war kränklich, in einem bestimmten Sinn lebensuntüchtig, neigte zur Melancholie und starb einen frühen Tod. Der Vater heiratete wenig später eine Frau mit drei Kindern. Lincoln hat sich über seine Stiefmutter positiver geäußert als über seine leibliche Mutter. Es muß ihn gequält haben, daß er weder über ihre noch über seine eigene Herkunft genauer Bescheid wußte. »My mother was a bastard«, sagte er einmal, und hat ansonsten nur ungern über seine Kindheit gesprochen. Wahrscheinlich hatte Lincoln im Alter von zehn Jahren durch den Tritt eines Pferdes einen Schädelbruch mit schweren traumatischen Folgen erlitten. Seine raschen Stimmungsumschwünge zwischen Melancholie und Humor, seine Absencen und sein Doppelsehen im halbwachen Zustand wurden auf diese Verletzung zurückgeführt. Lincoln hat mehrfach von seinem Tod geträumt oder ihn vorausgeahnt. Er träumte wiederholt, er würde auf dem Wasser treiben, einem unbekannten Ufer entgegen. Psychoanalytiker deuteten dies als Todeswunsch oder als Verlangen nach Wiedergeburt. Lincoln ist erst nach seiner Ermordung zur Heldengestalt erhoben worden. Zu Lebzeiten war er eher unpopulär, im Süden ohnehin, im Norden nicht beliebter als andere Präsidenten vor ihm. Als Redner machte er eine gute Figur, auch wenn seine Formulierungen zu hausbacken waren, um als große rhetorische Kunstwerke gelten zu können. Nach seiner berühmt gewordenen Ansprache auf dem Schlachtfeld von Gettysburg meinte sein Parteigänger Seward: »Er hat versagt, und das tut mir leid«. Lincoln selbst hielt eine viermal wiederholte Rede zum Thema Sklaverei für seine beste Leistung: »Ein in sich gespaltenes Haus kann nicht stehen. Ich glaube, diese Regierung kann auf Dauer halb versklavt, halb frei nicht überleben.« Die »House-Divided«-Rede, erstmals gehalten im Juni 1858 in Springfield (Illinois), gehört zu den Lincoln-Douglas-Debates, einem Rededuell in sieben Teilen von insgesamt 21 Stunden Länge, das sich Lincoln mit seinem politischen Konkurrenten Stephen Douglas lieferte, dem späteren Präsidentschaftsbewerber der Demokratischen Partei. Spätere Legenden haben vieles überdeckt: Abraham Lincoln war zunächst ganz und gar kein Vertreter der Emanzipation der Schwarzen. Er war in seinen Entscheidungen viel weniger emotional als heute oft geglaubt wird: Er war ein sehr rational denkender, pragmatischer Politiker, ein erfahrener Parlamentarier und geschickter Taktiker. Ihm war das Problem einer Gesellschaft, die zu über 40 % aus versklavten schwarzen Menschen bestand, durchaus bewußt: Welche Umwälzungen sich hier anbahnten, wenn es zu einer Gleichstellung der Rassen, zu einer Abschaffung der Sklavenhaltung kam, welche Bedrohung sich für die weiße Gesellschaft ergab, darüber hatte er frühzeitig nachgedacht. Er erkannte allerdings auch den humanitären Wert dieser Frage und die Wirkung, die damit auf die nördlichen Wähler und auf Europa erzielt werden konnte. Lincoln dachte nicht daran, einen Krieg gegen die Sklavenwirtschaft zu führen. Ihn interessierte allein die Erhaltung der amerikanischen Union. Eine früher geäußerte Sympathie für die Doktrin der Rechte der Einzelstaaten hatte er längst aufgegeben. Er sagte: â01EWenn es mir gelänge, die Union zu erhalten, indem ich alle Sklaven befreite, würde ich das tun. Wenn ich die Union erhalten könnte, indem ich nur einige Sklaven befreite, würde ich auch das tun. Wenn ich die Union erhalten könnte, indem ich die Sklaverei bestehen ließe, würde ich nicht zögern, dies zu tun.â01D Exakt danach verhielt er sich. Die Sklavenbefreiungsproklamation, die dem Amerikanischen Bürgerkrieg das historische Gepräge gab, enthielt nämlich einen Aspekt, den die Welt immer wieder übersieht: Es wurden gar nicht alle Sklaven befreit. Die berühmte Proklamation befreite nur jene Schwarzen vom Joch der Sklaverei, die sich in den konföderierten Staaten befanden - in denen die Regierung Lincoln nur insoweit Einfluß besaß, wie die Unionsarmee vorgedrungen war. In den Grenzstaaten zwischen Süden und Norden, die kulturell eher dem Süden zuzurechnen waren, die sich aber politisch an die Seite des Nordens gestellt hatten, blieb die Sklavenhaltung vorerst erlaubt, da Lincoln nicht riskieren wollte, diese Verbündeten ebenfalls der Konföderation zuzutreiben. Emanzipationsbestrebungen mit dem Norden, Unfreiheit und Rassismus mit dem Süden zu assoziieren, dies wäre eine Vereinfachung der Geschichte. In beiden Teilen der Union wurden schwarze Menschen als minderwertige Wesen betrachtet. Der Hartford Courant aus Connecticut warnte vor der »pestilenzmäßigen Gegenwart« der Schwarzen, und der nordstaatliche Republikaner William Seward bezeichnete sie als fremdes und schwächliches Element, das sich wie der Indianer gegen jede Assimilation sperre. Bleiben die Weißen Nordamerikas geeint, schrieb Tocqueville, so läßt sich schwer denken, daß die Neger der ihnen drohenden Vernichtung entgehen; sie werden dem Schwert oder dem Elend erliegen. |